Ihr Lieben, was brauchen Jugendliche wirklich? Wie können Eltern, LehrerInnen und die Gesellschaft unterstützen? Das Buch „Jugend unter Druck“ von Caroline Culen und Golli Marboe widmet sich in acht Abschnitten wichtigen Problembereichen, welche die psychische Gesundheit einschränken:
Leistungsdruck und Prüfungsangst, Mobbing, Körperbild und Essstörungen, Handysucht sowie Depression und Suizidalität. Ihre Expertise als Psychologin und Journalist, gepaart mit persönlichen Erfahrungen als Eltern, macht den Inhalt sehr fundiert und gleichzeitig lebensnah. Wir haben die beiden interviewt.
Liebe Caroline, lieber Golli, wie kamt ihr auf die Idee, euer Buch „Jugend unter Druck“ zu schreiben?
Wir kennen einander durch die Zusammenarbeit an Präventionsprojekten für Kinder und Jugendliche. Die Psychologin Caro Culen leitete jahrelang die Österreichische Liga für Kindergesundheit und der Journalist Golli Marboe initiierte als Obmann von VsUM das primär präventive Projekt für Schülerinnen und Lehrlinge – die „mental health days“. Aber auch als Eltern von jeweils vier Kindern und mittlerweile auch Großvater beschäftigen uns die Lebenswelten und Herausforderungen junger Menschen sehr.
Was der Titel des Buches sofort da oder gab es andere? Wenn ja, welche?
Der Titel des Buches drängte sich tatsächlich schnell auf. Die gesellschaftlichen Krisen der letzten Jahre, Klima, Krieg, Inflation, nicht zuletzt die Folgen der Covid Pandemie, fordern ganz besonders Kinder und Jugendliche heraus.
Können Sie uns nach dem Schreiben Ihres Werks sagen, was Jugendliche wirklich brauchen?
Was Jugendliche wirklich brauchen sind verlässliche, verständnisvolle und liebevolle Beziehungen. Eine wichtige Motivation für dieses Buch war, Verständnis für junge Menschen und die emotionalen Herausforderungen der Jugendzeit zu wecken. Mit Hintergrundwissen und Erfahrungen aus den Mental Health Days wollten wir auch Eltern und Menschen, die mit jungen Menschen z.B. im Schulkontext arbeiten, unterstützen und bestärken.
Psychotherapie und oder Psychologische Gespräche und Angebote aller Art (wie auch unser Buch) können dabei helfen das Wissen zu Fragen des psychischen Wohlbefindens zu verbessern, aber wir können keine Antworten geben. Jedes Leben, jedes Schicksal, jeder Mensch ist einzigartig. So auch deren Psyche.
Mit unserem Buch möchten wir allerdings einen Beitrag dazu leisten, dass man über Fragen des psychischen Wohlbefindens mehr weiß, dass man vielleicht auch besser zwischen fordernden, aber letztlich zum Leben und zum Erwachsenwerden dazugehörenden, Gefühlen und etwaigen psychischen Krankheiten unterscheiden lernt und schließlich, wie wichtig und hilfreich es ist, professionelle Unterstützung durch die vielen vorhandenen Hilfseinrichtungen zu suchen.
Hoffentlich kann unser Buch außerdem zur Enttabuisierung der Themen und zur Entstigmatisierung Betroffener beitragen. Anders zu sein ist weder gut noch schlecht, anders zu sein ist einfach nur anders.
Wie können wir unsere Jugendlichen in ihrem mentalen Erleben unterstützen?
Verlässlich für sie da sein, nachfragen, Zuhören, sich um Verstehen bemühen, sie annehmen wie sie sind und falls sie mögen auch reden. Vor allem aber immer wieder aufzeigen, wie viele Unterstützungsangebote es für psychische Themen tatsächlich gibt.
Warum hören wir derzeit gefühlt immer mehr von mentalen Belastungen von Jugendlichen? Sind es die Medien, die Nachwirkungen von Corona, das Übersehenwerden von der Politik, das veraltete Schulsystem, die sich wandelnden Familienstrukturen, die Vielzahl an Möglichkeiten, die Zukunftsangst durch Krieg oder Klimakrise?
Ja genau, wenn all diese schrecklichen Krisen auch irgendeinen positiven Effekt haben, dann den, dass wir in unserer Gesellschaft nun mehr über Fragen des psychischen Wohlbefindens sprechen, als noch vor einigen Jahren. Es sollte selbstverständlich werden über die Seele und die Psyche genauso offen und angstfrei reden zu lernen, wie über andere Themen unseres Lebensalltags.
Psychische Krisen gab es schon immer, ob sie mehr werden ist schwer zu sagen, wir haben keine Vergleichsdaten. Aber wir wissen, was junge Menschen jetzt belastet: dazu gehören natürlich der rasant schnelle Wandel (von Gesellschaft, politischen Systemen, Technologien) – das macht Stress. Stichwort Internet in der Hosentasche: Handy & Co liefern zu viele und dann meist auch noch negative Informationen. Auch das macht enormen Stress. Und die gesamtgesellschaftliche Haltung „es kann nur bergab gehen“ ist auch nicht hilfreich.
Lieber Golli, du bist auch Initiator der »mental health days«, worum genau geht es da?

Die mental health days sind ein primärpräventives Projekt für Lehrlinge, Schülerinnen zwischen zehn und neunzehn Jahren, für deren Pädagoginnen und für deren Erziehungsberechtigte. Inzwischen konnten wir in den drei Jahren unseres Bestehens in ca. 2.500 einzelnen Workshops mehr als 150.000 Kinder und junge Erwachsene erreichen.
Dabei geht es in altersgerecht gestalteten Modulen um jene Themen, die übrigens auch die Themen unseres Buches sind: Mobbing, Körperbild und Essstörungen, Handysucht, Leistungsdruck und Prüfungsangst, Sucht (mit Schwerpunkt Alkohol), Depression, Suizidalität und Ängste. Im Rahmen der „mental health days“ finden immer auch Weiterbildungen für Pädagoginnen/Ausbildnerinnen und für Erziehungsberechtigte statt. Denn das psychische Wohlbefinden ist ein gesamtgesellschaftliches Thema und keines, das „nur“ die Jugend betrifft.
Du hast dein Kind durch Suizid verloren, ein Interview mit einer suizidhinterbliebenen Mama hat bei uns im Blog vor kurzem für viel Mitgefühl gesorgt und ich habe als Notfallseelsorgerin auch viel mit dem Thema zu tun, ist es deswegen für dich auch ein persönliches Anliegen, das Thema mentale Gesundheit bei Jugendlichen voranzubringen, ist das Teil deiner Verarbeitung?
Wenn man ein Kind durch Suizid verliert ist nichts mehr wie es war. Man stellt sich hunderte Fragen, was man hätte besser machen können. Auf diese Fragen werde ich keine Antworten bekommen. Aber einen Befund gibt es bei den Freundinnen von Tobias und bei uns in der Familie nach dem Tod des Buben schon: wir wussten zu wenig über Fragen des psychischen Wohlbefindens. Wenn er sich beim Sport das Bein gebrochen hätte, da hätten wir alle gewusst, was es zu tun gibt, aber wie verhält man sich, wenn ein junger Erwachsener über Wochen trübsinnig ist, oder sich immer mehr zurück zieht… da hatten wir keine Routinen oder Informationen.
Wir haben viel zu wenige Therapieplätze, was müsste sich gesellschaftlich in Sachen Mental Health verändern?
Da tut sich doch schon einiges und zumindest in Österreich gibt es Aktionen um die Lage zu verbessern. Bspw. mit der Aktion „Gesund aus der Krise“, in der junge Erwachsene bis zum 22 Lebensjahr 15 kostenlose Therapiestunden erhalten. Aber je länger wir uns mit dieser Materie beschäftigen, desto weniger ist das eigentlich befriedigend. Denn da in den meisten der genannten Forderungen sprechen wir immer nur von „Sanierung“. Müssten wir nicht vor allem an einer Gesellschaft arbeiten in der weniger junge Menschen krank werden?
Da stellt sich dann schnell die Frage, was hat das mit uns und unserem persönlichen Alltag zu tun? Sind das wirklich nur die Anderen, nur die Politikerinnen, die Pädagoginnen oder wer auch immer – oder sind wir das nicht auch selbst. Z. B. bei unserem Umgang mit Perfektionismus, mit Fehlerkultur, mit Scheitern, mit Selbstkritik…
Wie schaffen wir es, den Druck aus der Jugend zu nehmen? Oder ihn zumindest zu reduzieren?

Es geht um gesamtgesellschaftliche Prozesse und Themen. Bspw. um Verteilungsgerechtigkeit oder um Akzeptanz des Anders Seins, natürlich um die Art, wie wir bewerten, um den Umgang mit Medien, speziell den sozialen Medien, die massiv Druck aufbauen können. Für junge Menschen geht es um Perspektiven für ein gelingendes Leben, sie brauchen eine Zukunftsperspektive – statt Endzeitszenarien. Denn wofür lohnt es sich sonst zu leben?
Was möchtet ihr Eltern mit auf den Weg geben, deren Kind grad selbstverletzendes Verhalten an den Tag legt, unter einer Essstörung leidet oder sonstwie struggelt?
Wichtig ist, aufmerksam genug zu sein, um die emotionalen Kämpfe des Kindes mitzubekommen. Bei heftigen Themen wie Selbstverletzung oder Essstörungen sind professionelle Unterstützung oft durch ein ganzes psychosoziales Team das um und auf. Die Aufgabe der Eltern ist, weiterhin liebend, verlässlich und wenn irgendwie möglich zuversichtlich zu bleiben. Für Kinder ist die Hoffnung oder Gewissheit der Eltern auf Besserung ein ganz wichtiges Element auf dem Weg durch die Krise.
Erziehungsberechtigte kämen – außer diese sind selbst Chirurginnen – wohl kaum auf die Idee eine Blinddarmoperation selbst vorzunehmen. Wieso aber glauben dann so viele Erziehungsberechtigte, dass sie mit den Hausmitteln eines guten Gesprächs, eines Spaziergangs in der Natur oder mit der richtigen Playlist auf Spotify eine Depression, eine Essstörung, ADHS oder was auch immer bis zur Suizidalität selbst „behandeln“ könnten oder sollten? Bitte immer Hilfe von Expertinnen suchen und holen!