Rechenschwäche bei der Tochter: „Uns wollte ja niemand glauben“

Rechenschwäche

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Ihr Lieben, Birgit vermutete schon in der Grundschule, dass ihre Tochter eine Rechenschwäche haben könnte, wurde von den Lehrkräften aber nicht ernstgenommen und als überambitioniert und zu viel verlangend dargestellt. In der der weiterführenden Schule bestätigte sich dann ihr Verdacht, doch bis dahin hatte ihre Tochter schon ordentlich Selbstbewusstsein verloren. Eine Lerntherapie und ein Schulwechsel helfen grad, auch wenn das alles von den Eltern selbst organisiert und finanziert werden muss.

Du Liebe, wann und wie wurde dir klar, dass dein Kind eine Rechenschwäche hat?

Ich habe das schon früh gespürt. In der ersten Klasse habe ich immer drauf gewartet, dass der Groschen fällt. Freunde und Bekannte haben gesagt, dass es bei manchen Kindern halt etwas dauert. Und ich wollte das auch unbedingt glauben. Wer möchte schon solche Probleme?

Aber in der zweiten Klasse war mir klar, da stimmt was nicht. Jeden Tag fingen wir wieder bei Null an. Leider hatte die Mathelehrerin kein offenes Ohr für uns, sondern im Gegenteil: Sie hat versucht, mich als das Problem darzustellen. „Es ist nun mal so, dass manche Kinder in Mathe nicht gut sind“. „Sie erwarten zu viel von Ihrem Kind, weil sie selber Akademikerin sind“.

Ab wann hast du eine Diagnostik in Erwägung gezogen? 

Ab der zweiten, dritten Klasse. Nur leider war es dann so, dass durch Corona Lockdown war und gar nichts möglich war in der Hinsicht. Wir saßen fest im Homeschooling und wurden komplett allein gelassen als Eltern. Versuche, mit der Lehrerin zu reden, waren aussichtslos und haben unserem Kind noch mehr geschadet, weil sie dann von der Lehrerin vor den anderen Mitschülern bloßgestellt wurde. (Weil Homeschooling war, haben wir das ja mitbekommen in den Unterrichtssessions, die per Internet stattgefunden haben)

Wie war es für euch beide, endlich zu wissen, woran es lag?

Mir und auch meinem Mann ist ein Stein vom Herzen gefallen – wir waren uns da schon lange so sicher. Meine Tochter war da eher ambivalent. Auf der einen Seite war sie erleichtert aber größtenteils fühlt sie sich damit gebrandmarkt. Und deswegen kommuniziert sie das auch null. Sie schämt sich eher. Egal, was wir ihr dazu sagen.

Schulranzen
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Gab es viele Gespräche mit Lehrkräften oder fühltest du dich eher alleingelassen?

In der Grundschule, wie oben gesagt, null Hilfe. Auf der weiterführenden Schule war sie in einer so problematischen Klasse in den ersten zwei Jahren, dass ihr Problem da total untergegangen ist. Nach dem Schulwechsel (wir sind bei der Schulform Gymnasium geblieben, aber eine andere Schule) hatte sie zumindest einen netten Mathelehrer. Leider aus einer Generation, die nicht an Matheschwäche glaubt. „Das sind alles Lerndefizite“. Aber er war nett zu ihr und hat bei Klassenarbeiten zwei Augen zugedrückt. Dieses Jahr kriegt sie einen neuen Mathelehrer und ist dementsprechend nervös.

Wie hast du mit deinem Kind darüber gesprochen? Was hat es mit seinem Selbstbewusstsein gemacht?

Ja, sicher. Aber mein Kind ist super sensibel und hat sowieso aufgrund der Grundschulzeit ein Problem mit ihrem Selbstbewusstsein. Diese Behandlung durch die Lehrerin in der Grundschule hat bei ihr Spuren hinterlassen. Ich mache mir da auch große Vorwürfe. Ich hätte eher und stärker handeln müssen.

Wir haben auf die Fachkenntnis der Lehrerin vertraut. Das würde ich nie wieder. Jetzt wird mein zweites Kind eingeschult und ich habe schon große Angst, weil ich das Gefühl habe, dass Lehrer und Eltern nicht mehr an einem Strang ziehen (aus welchen Gründen auch immer). Also um zurück zu der Frage zu kommen: Ihr Selbstbewusstsein ist sehr angeschlagen. Sie hat das Gefühl, ein Defizit zu haben.

Du sagst, ihr hättet mittlerweile keine staatliche Unterstützung mehr, was genau meinst du damit? 

Wir wohnen in NRW und da ist Matheschwäche wohl sowieso nicht von den Schulen anerkannt. Aber wenn wir unsere Tochter eher hätten testen lassen können (Wartezeit im Moment mindestens 1 JAHR!), hätten wir über das Jugendamt die Möglichkeit bekommen, die Mathelerntherapie finanziert zu bekommen. Mir sind Familien bekannt, die ihren Wohnort deswegen geändert haben.

Wir waren in der Position, dass wir erst in der weiterführenden Schule den Test durchführen lassen konnten. Und ganz, ganz viele staatliche Stellen bieten den aber für Kinder nur für Grundschulalter an (Argument: wenn eine Rechenschwäche vorliegt, dann zeigt die sich im Grundschulalter. Nur eine sehr kleine Anzahl von Kindern schafft es auf eine weiterführende Schule, ohne damit aufzufallen. Und für die wenigen lohnt sich die Anschaffung der teuren Tests nicht!!!! So wurde uns das gesagt, fand ich unmöglich).

Wir haben dann den Test privat bezahlt, weil wir für uns Klarheit haben wollten. Aber weil das keine staatliche Stelle war, ist der nicht anerkannt worden. Wir haben dann trotzdem eine Lerntherapie angefangen, um unserem Kind zu helfen, aber die kostet im Monat 300 Euro. Das muss man sich auch erst leisten können. Und die wären bei einem Test während der Grundschule übernommen worden. So wurde es uns zumindest gesagt.

Was würdest du dir an Unterstützung von Lehrkräften, von Gesellschaft, von Politik wünschen? 

Lehrkräfte haben da so eine große Verantwortung. Aber aufgrund der Klassengröße und manchmal auch der Unerfahrenheit sind sie überhaupt nicht sensibilisiert für dieses Thema. In aller Munde ist zurzeit ADHS. Ich habe das Gefühl, dass man dann eher versucht, jedes Problem in diese Schiene zu drücken (war jetzt aber bei uns nicht der Fall) oder den Eltern zu sagen: Ihr übertreibt, euer Kind ist einfach nicht schlau (bei uns hat man das Wort DUMM benutzt!).

Von der Politik würde ich mir wünschen, dass das Thema Schule bzw. Lehrerausbildung komplett mal überarbeitet wird. Man muss Lehrer heute anders ausbilden, denn die Kinder sind auch anders, weil sich auch die Gesellschaft geändert hat. Aber Kinder und Eltern haben gar keine Lobby hier in der Politik. Matheschwäche ist da sicherlich nur ein kleiner Randbereich. Aber insgesamt ist man als Eltern mit allem alleingelassen (Bsp. Ferienbetreuung, wenn beide Eltern voll arbeiten).

Wie geht es deiner Tochter heute, wie kommt sie klar? 

Lernen
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Unserer Tochter geht es jetzt besser damit, haben wir das Gefühl. Die Lerntherapie hilft ihr sehr. Notenmäßig vielleicht nicht so stark, aber es hilft ihrem Selbstbewusstsein. Und deswegen werden wir das, auch wenn es finanziell ein Thema ist, weiterführen. Zur Not bis zum Abitur. Meine Tochter ist eine sehr fleißige Schülerin und steht in Deutsch, Englisch und Latein auf Sehr gut oder Gut. Wir möchten ihr ermöglichen, auch ein Abitur zu machen, wenn sie das möchte. Und wenn sie dafür diese Unterstützung braucht, dann ist das halt so.

Was würdest du wieder so machen, was niemals?

Niemals wieder würde ich meinen Mutterinstinkt zur Seite schieben. Egal in welchem Bereich. Schule, Medizin – egal. Wenn mein Bauchgefühl sagt, da stimmt was nicht, dann habe ich eine 100 % Trefferquote bisher. Ich würde auch in der Zukunft, wenn die staatlichen Stellen einen alleine lassen, alles selbst organisieren. So wie bei der Testung. Als Eltern ist man allein auf sich gestellt. Darum gilt es, sich in solchen Situationen schlau zu machen und dann selbst tätig zu werden.

Was wünschst du dir und euch für die Zukunft?

Ich wünsche meiner Tochter ein paar schöne Jahre auf der Schule und dass sie wieder an sich selbst glaubt. Dass sie sich nicht versucht, über die Noten zu definieren und, dass sie trotz Matheschwäche den Beruf ihrer Wahl dann ergreifen kann. 



1 comment

  1. Wir selbst haben das Problem mit unserer Tochter bezüglich Legasthenie erlebt. Uns wurde geraten zu akzeptieren, dass sie eben weniger intelligent ist. Erst auf der weiterführenden Schule hatte sie einen tollen Lehrer, dem es gleich aufgefallen ist. Nun ist sie von der Gemeinschaftsschule aufs Gymnasium gewechselt. Legasthenie ist anerkannt, so dass dies in den Noten berücksichtigt wird und sie steht in allen Fächern auf gut bzw. sehr gut. So kann es doch nicht weitergehen in unserem Bildungssystem.

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